Obwohl – oder gerade weil – Abraham David Christian mit seinem radikal reduzierten Schaffen von Beginn an konsequent gegen den Strom schwamm, lud Harald Szeemann den 19-jährigen 1972 zur 5. documenta ein. Christian stellt den Menschen in den Mittelpunkt der Kunst, das heißt er macht „Kunst für sich als Angebot an andere Menschen“ mit elementaren Materialien und entsprechenden Grundformen. Von Beginn an bringt er seine Gedankenwelt als Mensch in seiner physischen, psychischen und spirituellen Gänze in seiner Kunst zum Ausdruck. Mit und für diese Position provoziert er damals wie heute; so führen seine Wortgefechte mit Joseph Beuys, der sein Informationsbüro der Organisation für direkte Demokratie durch Volksabstimmung 1972 nach Kassel verlegt hatte, zu einem legendären Boxkampf, den Beuys letztlich im Sinne beider Kontrahenten wie folgt deutet: „Ich bin überhaupt nicht kämpferisch. In einem solchen Zeitalter, in dem wir leben, in dem der Mensch angelegt ist auf tatsächliche Freiheit, muss dieser Kampf natürlich anders sein als jemals in der Geschichte. Er muss sich ganz ins Innere verlegen, muss ein Kampf der Ideen, des Geistes sein. Jeder andere Kampf ist ein sinnloser Kampf. Wenn ich zum Beispiel, wie auf der documenta 1972, einen Boxkampf bestreite, dann ist das ein Boxkampf für direkte Demokratie, das heißt: Für einige Zuschauer wird eine Kampfsituation dargestellt. Die drückt aber symbolisch nichts anderes aus als diesen Kampf für eine humane Zukunft.“ Seit den 60er Jahren arbeitet Christian mit Erde, er liegt und kriecht über sie, hält sich in Erdhöhlungen auf und isoliert sich während der documenta deshalb in die Natur. „Künstlerische Arbeit heißt für mich Auseinandersetzung mit sich selbst. Um diese Arbeit intensiv verfolgen zu können, habe ich mich mit Isolation beschäftigt. Während der fünften Documenta 1972 habe ich 30 Tage alleine auf einer Insel in der Fulda verbracht. Das war eine Arbeit im Zusammengang mit dem Max-Planck-Institut für Verhaltenspsychologie. Auf der Fulda-Insel in Kassel habe ich dann angefangen, mein Leben durch Skulptur zu organisieren. Ich habe kleine Skulpturen gemacht, die den Mittelpunkt der Insel markierten, die mir den Weg zum Wasser zeigten, die mir die Zeit angezeigt haben – also nicht Skulpturen, die sozusagen aus Spaß entstanden sind, sondern aus einer Notwenigkeit heraus. Diese Skulpturen sind dann aus einem bestimmten Material entstanden, und ich konnte ja nur mit den Händen arbeiten. Die Erfahrung war für mich wichtig, um das richtige Maß für meine Skulpturen zu finden. Ich fand heraus, dass der menschliche Körper für mich maßgebend ist“. Diese Äußerungen macht Christian im Katalog „Selbst“, anlässlich der Ausstellung 1978 im Museum Haus Lange in Krefeld, wo er seine Erdarbeiten zeigt. Aus der über die Ausstellungsräume verteilten fünfteiligen Gesamtinstallation kauft der damalige Bochumer Museumsdirektor Peter Spielmann 1985 eine 64-teilige Einzelarbeit. Nachdem der Künstler schon 1974 in der Galerie Inge Baecker, dann 1976 im Museum Bochum und 1978 in der Galerie m ausstellt, das Bochumer Museum im selben Jahr seine in Krefeld gezeigte Arbeit ankauft und Christian am 1. Bochumer Bildhauersymposium 1979/80 teilnimmt, aus dem eine Eisenskulptur im öffentlichen Raum verbleibt, hat Bochum einen besonderen Stellenwert auf seiner persönlichen Landkarte. Seinen eingeschlagenen Weg der künstlerischen Selbsterfahrung verfolgt er konsequent, wozu im hohen Maße Reisen und das damit verbundene Eintauchen in andere Gesellschaften, Religionen und Kulturen gehören. Im Wechsel in New York, im japanischen Hayama und Düsseldorf lebend, erweitert er durch eine disziplinierte Geisteshaltung seine Freiheitserfahrung. So schafft Christian weiterhin mittels elementarer Materialien ein Werk höchster, universaler Geistigkeit. Ausgehend von der frühen Bochumer Erdarbeit entsteht eine künstlerische Gesamtinstallation mit weiteren Skulpturen, Zeichnungen und Fotografien aus der Zeit, die als Ganzes die Zeitlosigkeit seiner Kunst spürbar werden lässt. Anlässlich des 60. Jubiläums des Kunstmuseum Bochum konnte für die Sammlung dank der großzügigen Förderung durch das Ministerium für Kultur und Wissenschaft des Landes Nordrhein-Westfalen die Eisenskulptur „Ohne Titel“ aus dem Jahre 2019 erworben werden. Damit wird der Blick vom Frühwerk eindrucksvoll auf das aktuelle Schaffen von Abraham David Christian geleitet.
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