Die Bochumer Auswahl umfasst 160 Werke aus einem Zeitraum von 1968 bis 2005.
—————————— Puntos de vista zeigt ein reiches Spektrum an unterschiedlichen Gesichtspunkten zeitgenössischen Kunstschaffens in Lateinamerika. Die Ausstellung umfasst 160 Werke von 31 Künstlerinnen und Künstlern, die in Argentinien, Brasilien, Chile, Costa Rica, Cuba, Guatemala, Honduras, Kolumbien, México, Uruguay und in der República Dominicana leben oder lebten. So unterschiedlich wie die Länder, so heterogen sind auch die präsentierten Werke.
In den Exponaten spiegelt sich die Bandbreite heutiger Kunstproduktion. So sind Installationen, Fotografien und Videos sehr stark vertreten – aber auch Objekte, Malerei und Zeichnungen.
Die Kunst aus Mittel- und Südamerika wurde im 20. Jahrhundert in den westlichen Ländern lange Zeit vernachlässigt. Erst seit den 1990er Jahren kann man ein internationales Interesse beobachten, wie die Beteiligung von lateinamerikanischen Künsterlinnen und Künstler an Biennalen und der Documenta zeigt. Klischees und diffuse Vorstellungen des Exotischen, Fremden, Bunten und Magischen scheinen dennoch nach wie vor weit verbreitet zu sein. Die aus der Daros-Latinamerica Collection ausgewählten Arbeiten aus einem Zeitraum zwischen 1968 bis 2005 stehen vor allem in der Tradition einer konzeptualistischen und konstruktivistischen Kunst, die seit den 1950er Jahren in Lateinamerika neue Ansätze hervorbrachte und häufig, gepaart mit Ironie und Witz, subversive Strategien verfolgte.
Die Daros-Latinamerica AG baut seit dem Jahr 2000 in Zürich eine Sammlung zeitgenössischer Kunst aus Lateinamerika auf. Inzwischen ist sie die bedeutendste in Europa und umfasst Werke von über 100 Künstlerinnen und Künstler, die mit einzelnen Arbeiten oder Werkkomplexen vertreten sind und deren Positionen als wegweisend eingeschätzt werden. Mit ihren Aktivitäten will die Sammlung eine im Vergleich zur europäischen und nordamerikanischen Kunst gleichberechtigte Rezeption erreichen.
Das Video Re-trato (Porträt, Ich wiederhole), 2003, zeigt den kolumbianischen Künstler Oscar Muñoz (Jahrgang 1951) bei dem vergeblichen Versuch, mit Wasser das Bildnis eines Menschen auf einen Steinfußboden zu zeichnen. Während das tradierte Porträt durch das Einfrieren der Zeit gekennzeichnet ist, lässt Oscar Muñoz diese wirksam werden. Metaphorisch spielt das Bildmachen des Zeichners im Video auf den Wunsch an, zu überdauern. Die permanente Wiederholung kennzeichnet das Tun als Sisyphos-Arbeit.
Dass das Leben als solches nicht dargestellt werden kann, hat unterschiedliche künstlerische Strategien zur Folge, eine ist die Dokumentation. Diese begegnet uns im Schaffen der chilenischen Künstlerin Paz Errázuriz (Jahrgang 1944), die seit Jahrzehnten auf die Ränder der bürgerlichen Gesellschaft blickt. Aus einem vertrauensvollen Kontakt heraus entstehen Aufnahmen, die durch ihre ungekünstelte Aufrichtigkeit bezaubern und von großem Respekt den fotografierten Menschen gegenüber zeugen.
Das Erzählen ist eine Möglichkeit, menschliches Leben zur Anschauung zu bringen. Im Video Bocas de Ceniza (Aschemünder), 2003, des kolumbianischen Künstlers Juan Manuel Echavarria (Jahrgang 1947) erzählen acht Überlebende von Massakern singend von ihren traumatischen Erfahrungen. Ihre starke Präsenz und die intensive Konzentration der Singenden, für die die Aufführung ein Weg zur Verarbeitung ist, vermittelt mehr Authentizität und Glaubwürdigkeit als jede Darstellung der brutalen Überfälle von Paramiliz, Guerilla und Militär in Kolumbien auf die Zivilgesellschaft.
Wie eine Anthropologin erforscht, sammelt und vermittelt die India Maruch Sántiz Gómez (Jahrgang 1975) aus Chiapas, México, alte Volksweisheiten und interpretiert diese ästhetisch neu in ihren Creencias (traditionelle Sprüche und Weisheiten ihres Volksglaubens) von 1994 bis 1996. Fotografien von unprätentiös inszenierten Alltagsgegenständen kombiniert sie mit Worten in ihrer Muttersprache Tzotzil. Die Synthese von Text und Bild verleiht ihren Arbeiten eine rätselhaft poetische Aura.
Die brasilianische Künstlerin Rosângela Rennó (Jahrgang 1962) stieß 1995 bei ihren Recherchen im Carandiru-Gefängnis in São Paulo auf eine umfassende Sammlung von Glasplatten und Negativen aus dem frühen 20. Jahrhundert mit Fotos von Tätowierungen auf den Körpern der Strafgefangenen. Daraus entstand die mehrteilige Arbeit Ciatriz (Narben), 1997/1998, bei der sie das Augenmerk auf die privaten Lebensgeschichten der anonymisierten Männer lenkt, von denen die Zeichnungen auf der Haut erzählen.
Die multimediale „Verkaufs“-Installation Savon de corps von 2004 der argentinischen Künstlerin Nicola Costantino (Jahrgang 1964) wirbt für Seife, deren Substanz zu drei Prozent aus dem abgesaugten Körperfett der Künstlerin besteht, ein anzüglicher und sarkastischer Kommentar zur Selbstvermarktung und Funktion des Künstlers sowie des Körper- und Schlankheitswahns.
In der Malerei und im zeichnerischen Werk des argentinischen Künstlers Guillermo Kuitca (Jahrgang 1961) spielen Kartografie und Architektur, neben Theater, Musik und Literatur, eine wichtige Rolle. Seine poetischen Vorstellungswelten verdichtet er zu Grundrissen und Stadtplänen.
In den Konstruktionen der brasilianischen Künstlerin Iole de Freitas (Jahrgang 1945) geht es um das Oszillieren und den Ausgleich der Kräfte, die Interaktion zwischen Innen und Außen, das Zusammenspiel von Licht, Fläche und Form sowie die Bewegung des Menschen im Raum.
Aus dem dynamischen, durch vitales Experimentieren gekennzeichneten Schaffen des brasilianischen Multimedia-Künstlers Antonio Dias (Jahrgang 1944) zeigt die Ausstellung konzeptuelle Malerei wie The Occupied Country oder das Pflasterstein-Readymade To the police von 1968.
In den Sepia getönten, monumentalen Porträts des aus Guatemala stammenden und in Argentinien lebenden Fotokünstlers Luis González Palma (Jahrgang 1957) schicken die frontal und reglos Dargestellten dem Betrachter intensive, aber undurchdringliche Blicke entgegen und hüllen ihn in eine geheimnisvolle Aura des Schweigens.
Zwölf bis 15 Millionen Menschen wurden als Sklaven von Europäern aus Afrika in die so genannte Neue Welt verschleppt. Dieser größte Menschenraub der Geschichte führte dazu, dass Brasilien, der Karibik und Nordamerika ein vielfältiges Erbe afrikanischer Kultur gemeinsam ist. In der kubanischen Santería und dem brasilianischen Candomblé sind Elemente der Religion der Yoruba und anderer afrikanischer Nationen bis heute lebendig. Die Ausstellung präsentiert künstlerische Positionen, die sich auf sie beziehen, so den brasilianischen Foto-Künstler Mario Cravo Neto (Jahrgang 1947). Er gelangt in seinen Inszenierungen spielerisch zu ungewöhnlichen Kompositionen von großer ästhetischer Ausdruckskraft und Poesie. Mario Cravo Neto lebt in Salvador, einem Knoten- und Kreuzungspunkt portugiesischer und afrikanischer Kultur par excellence.
Die aus Cuba stammende und in México lebende Fotokünstlerin Marta María Pérez Bravo (Jahrgang 1959) inszeniert ihren eigenen Körper unter Verwendung einer ikonografischen Bildersprache, die sich sowohl auf die Santería (afrokubanischer Kult) als auch auf die christlich-katholische Religion bezieht, um existentielle Grundfragen zu thematisieren.
Der 1937 in Lübeck geborene, 1939 nach Uruguay emigrierte Künstler und Kunstkritiker Luis Camnitzer führte in den 1960er Jahren politisches Engagement in die Konzeptkunst ein. Die Ausstellung präsentiert Objekte, die ironische Kommentare zu Kunstgeschichte und Gegenwartskunst abgeben.
Erfindungsreich und humorvoll nutzt der aus Brasilien stammende Künstler Vik Muniz (Jahrgang 1961) den Bilderfundus aus Kunstgeschichte und Medien, um mit seinen durch ungewöhnliche Materialien verfremdeten Sujets Themen wie Wahrnehmung und Erinnerung sowie die Bedeutung, Repräsentation und Reproduktion von Bildern zur Diskussion zu stellen.
Das Projekt steht unter der Schirmherrschaft von Hans-Heinrich Große-Brockhoff, Staatssekretär für Kultur des Landes Nordrhein-Westfalen.