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UNERWARTET / UNEXPECTED. Von der islamischen Kunst zur zeitgenössischen Kunst Kunstmuseum Bochum
18 Jun 2010———10 Okt 2010

—————————— Die Ausstellung UNERWARTET / UNEXPECTED stellt in Anknüpfung an die beiden vorhergehenden Großprojekte des Kunstmuseums Bochum – „Zen und die westliche Moderne“ (2000) und „Das Recht des Bildes – Jüdische Perspektiven in der modernen Kunst“ (2003) – eine kulturelle und ästhetische Austauschbeziehung dar. Die Präsentation visualisiert auf drei sich bedingenden Ebenen Einflüsse und Potenzen islamisch geprägter Kulturräume und eröffnet auf dieser Basis eine internationale Perspektive. Von Bochum ausgehend werden unmittelbar benachbarte sowie weit entfernte Orte unter historischen, kulturellen und künstlerischen Aspekten kartographiert.

Den Ausgangspunkt des Bochumer Ausstellungsprojekts UNERWARTET / UNEXPECTED bildet die fotografische Untersuchung von Tuomo Manninen. Seit Mitte der 1990er Jahre widmet sich der finnische Fotograf Tuomo Manninen in seiner Wir/We-Serie dem Gruppenporträt und damit der Frage nach dem Verhältnis von Individuum und Gesellschaft, Identität und Rolle. Auf der ganzen Welt entstanden, entfalten die inzwischen mehr als 200 Bilder einen gesellschaftlichen Querschnitt ihres Entstehungsortes und ein Panorama der Welt. Zugleich überführt der Fotograf mit dem Gruppenporträt ein klassisches Motiv der Kunst- und Kulturgeschichte in die Gegenwart und befreit es von repräsentativen und gesellschaftlichen Zwängen. Wie in einem großen Puzzle entfaltet sich dabei ein „Familienporträt von der Welt und für die Welt“ (Tuomo Manninen).
Für das Kunstmuseum Bochum hat Tuomo Manninen zwischen September 2009 und April 2010 zehn Familien im Ruhrgebiet besucht. Gemeinsam sind all diesen Menschen ihre familiären Wurzeln, die in verschiedenen islamisch geprägten Kulturräumen liegen, und ihre Identifikation mit dem Ruhrgebiet als Wohnort und Lebensmittelpunkt. Vermittelt durch die Fotografie öffnen die Familien in den großformatigen Porträts ihre Wohnzimmer und erlauben dem Betrachter damit einen einzigartigen Einblick  in ihre private Lebenswelt. Es entstehen respektvolle Familienporträts zwischen authentischer Lebenswirklichkeit und subtiler Inszenierung.

Auf einer zweiten Ebene der Ausstellung werden diesem fotografischen Projekt von Manninen Werke von zeitgenössischen Künstlerinnen und Künstlern aus den jeweiligen Herkunftsländern dieser „Ruhrgebietler“ exemplarisch gegenüber gestellt. Kulturelle Brüche, aber auch Gemeinsamkeiten und Kontinuitäten werden durch diese Begegnung sichtbar.

Ein Charakteristikum des Projektes ist es – wie schon der Titel besagt -, unerwartete Sinnbezüge herzustellen. Solche offenbaren sich durch die dritte Ebene der Ausstellung: Werke der klassischen islamischen Kunst treten hier neben solche der Gegenwartskunst. Der durch Migration entstandene kulturelle Reichtum bietet ein einmaliges ästhetisches Potenzial, das durch die dauerhafte Ansiedlung dieser Menschen im Ruhrgebiet bereits wirksam geworden ist.

Der Schwerpunkt bei der Auswahl der Gegenwartskunst liegt hierbei sowohl auf international anerkannten, als auch auf neuen Positionen aus diesen Ländern. Jenseits von Klischees reflektieren Vertreter innovativer Kunst aus zehn Ländern des islamischen Kulturkreises unterschiedliche ästhetische und gesellschaftliche Probleme:

Offizieller Beitrag des Kunstmuseums Bochum zu „Mapping the Region“, der Ausstellungsreihe der RuhrKunstMuseen im Rahmen der Kulturhauptstadt Ruhr.2010

– Hamra Abbas – Pakistan (* 1976 in Kuwait, lebt und arbeitet in Islamabad und Boston)
– Arahmaiani – Indonesien (* 1961 in Bandung, lebt und arbeitet in Yogyakarta)
– Zineb Sedira – Algerien (* 1963 in Paris, lebt und arbeitet in London)
– Lara Baladi – Libanon (* 1969 in Beirut, lebt und arbeitet in Kairo)
– Mounir Fatmi – Marokko (* 1970 in Tangiers, lebt und arbeitet in Paris)
– Tarek El Ghoussein – Palästina / Vereinigte Arabische Emirate (* 1962 in Kuwait), lebt und arbeitet in Sharjah)
– Özlem Günyol – Türkei (* 1977 in Ankara, lebt und arbeitet in Frankfurt a. M.) und Mustafa Kunt – Türkei (* 1978 in Ankara, lebt und arbeitet in Frankfurt a.M.)
– Arash Hanaei – Iran (* 1978 in Teheran, lebt und arbeitet in Teheran)
– Shady El Noshokaty – Ägypten (* 1971 in Damietta, lebt und arbeitet in Kairo)
– Nebosja Seric Shoba – Bosnien-Herzegowina (* 1968 lebt und arbeitet in New York)
In enger Zusammenarbeit mit dem Museum für islamische Kunst in Berlin (Pergamon-Museum) und dem Hetjens-Museum in Düsseldorf werden repräsentative Beispiele historischer islamischer Kunst wie alte Handschriften, Kalligraphien, Keramiken und Teppiche mit den zeitgenössischen Positionen in Beziehung gesetzt, um spirituelle Kontinuitäten, aber auch kulturelle Verschiebungen und Transferbezüge nachzuzeichnen. Es handelt sich nicht um ausschließlich religiös-islamische Kunst, sondern auch um Stile und Formen, die sich unter der politischen Führung des islamischen Systems entwickelten.

Die Welt der islamischen Kunst bewegt sich mit enormer Geschwindigkeit; seit 2008 werden bedeutende internationale Sammlungen zur historischen „islamischen“ Kunst grundlegend neu konzipiert, so etwa in Doha (Museum for Islamic Art), Kopenhagen (David Collection) und Toronto (Aga Khan Sammlung). Diese neue Wahrnehmung richtet sich auch auf die zeitgenössische Kusnt aus islamischen Kulturen. Auch in Deutschland fanden in den letzten Jahren große Ausstellungen über die klassische und zeitgenössische Kusnt aus muslimischen Kontexten statt, der Islam ist in aller Munde (Berlin, München, Hamburg). Wobei die Auseinandersetzung mit dem künstlerischen Erbe muslimischer Gesellschaften mehr als notwendig ist, um die vorhandenen Missverständnisse, Vorurteile und die Sprachlosigkeit zu überwinden.

Die Haltung des Westens gegenüber der islamischen Kultur ist bis in die Gegenwart durch koloniale Vorstellungen und das Klischeebild des Orientalismus bestimmt. Für die gleichberechtigte Betrachtung der zeitgenössischen Kunst aus diesen Ländern, ohne Pauschalisierungen und Verallgemeinerungen, ist ein langfristiger Prozess der Annäherung und Öffnung aufzunehmen. Der Begriff UNERWARTET / UNEXPECTED steht für eine unvoreingenommene Wahrnehmung als Voraussetzung, den eurozentristisch geprägten Blick des Kunstpublikums grundsätzlich zu revidieren.

Die Vergegenwärtigung der Migration – im erweiterten Sinne – zieht sich wie ein Roter Faden durch die Ausstellung. Arbeiten und Leben – diese beiden Wörter bezeichnen den Spannungsbogen, in dem sich die Einwanderer im Ruhrgebiet wiederfanden, zunächst mit der Perspektive beschränkter Aufenthaltsdauer, bald aber mit der Aussicht , den Rest ihres Lebens im Ruhrgebiet zu verbringen und so Aspekte ihrer jeweils mitgebrachten Kultur dauerhaft zu verorten. Das Ausstellungsprojekt hat keine didaktischen Absichten. Zielsetzung ist, die Komplexität und die Brisanz der Diskussion dieses Themas darzustellen, um auf unbefangene Weise ästhetisch zu überraschen. Unerwartete Bilder aus der Nachbarschaft und aus der Ferne könnten zu neuen Vorstellungen anstoßen.